Die Bibliotheken

Die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek

Wie die meisten anderen Spezialsammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek entstand auch die Musiksammlung nicht im Sinne einer "Gründung", sondern im Verlauf eines jahrhundertelangen Kristallisationsprozesses innerhalb der Bestände der ehemaligen k.k. Hofbibliothek. Erst 1920, mit dem Umzug in das Albertinagebäude, begann die Phase einer äußeren Selbständigkeit und der Umwandlung in eine moderne musikalische Gebrauchsbibliothek, als die sich die Musiksammlung heute neben ihrer Funktion als größtes staatliches Musikarchiv Österreichs und als "Autographenschatzkammer" der Öffentlichkeit darstellt. Dem Musikforscher steht (mit Ausnahme von Musikinstrumenten) eine breite Palette von musikbezogenen Materialien zur Verfügung: Musikhandschriften (ca. 51.000, darunter Autographen der bedeutendsten Komponisten von J. S. Bach bis in die Gegenwart (u. a. 69 Originalhandschriften Franz Schuberts), Chorbücher des 15. bis 17. Jahrhunderts, Notenmaterialien der Hofmusikkapelle und zahlreicher Wiener Theater und Kirchenarchive), Notendrucke (ca. 130.000, Schwerpunkt auf österreichischen Komponisten, zahlreiche Erst- und Frühdrucke), Textbücher von Opern und anderen Vokalwerken (ca. 8000 Bände), das Photogrammarchiv musikalischer Meisterhandschriften (Reproduktionen, ca. 61.000 Blatt), Musikliteratur (ca. 70.000 Bände, wissenschaftliche Literatur zu allen Gebieten der Musik), Nachlassbestände (ca. 20.000 Objekte, darunter die Nachlässe von Anton Bruckner, Hugo Wolf, Alban Berg, Franz Schreker, Hans Pfitzner etc.), Mikroformen (ca. 1.400 Stück, darunter Kataloge ausländischer Musikbibliotheken) und Tonträger (ca. 15.000 Schallplatten und Compact Discs, ca. 4.000 Tonbänder). 1972 wurde das "Institut für Österreichische Musikdokumentation" gegründet, das in enger Zusammenarbeit mit der Musiksammlung das Schaffen der österreichischen Gegenwartskomponisten erfasst und in regelmäßigen Konzerten deren Werke der Öffentlichkeit präsentiert.

Ein geschichtlicher Rückblick zeigt, dass Musikalien in der Hofbibliothek bereits lange vor der Institutionalisierung der Musiksammlung in großem Stil erworben wurden. Ein erster Zuwachs von außerordentlicher Bedeutung ist 1655 zu verzeichnen, als die Albert Fuggersche Bücherei von Mathias Mauchter für Kaiser Ferdinand III. in Augsburg besichtigt und zum Ankauf nach Wien gebracht wurde. Sie enthielt viel Musik, vor allem Zeugnisse der Frühzeit des Notendrucks, sodass sich heute in der Österreichischen Nationalbibliothek die wichtigsten und wahrscheinlich einzigen Reste der berühmten Fuggerschen Musikbibliothek befinden. Über 200 Signaturen aus dem Besitz von Philipp Eduard Fugger (1546-1618) mit dem Buchzeichen P.E.F., kleinere Gruppen von Drucken und Handschriften lassen sich verfolgen bis auf Raimund Fugger, den Älteren, dann über seinen Sohn Georg und seinen Enkel Philipp Eduard bis zu dessen Enkel Albert, von dem sie an den kaiserlichen Hof in Wien gelangten.

Erste Ansätze zu einer gezielten Pflege musikalischer Belange sind im Wirkungsbereich Gottfried van Swietens festzustellen, der von 1777 bis 1803 Präfekt der Hofbibliothek war. Van Swieten hatte in England als Diplomat die Musik Georg Friedrich Händels, besonders dessen große Oratorien, kennengelernt; er selbst komponierte, sammelte Musik und gründete 1785 die "Gesellschaft der associierten Cavaliers“, die mit ihren Oratorienaufführungen zu einem wichtigen Faktor im zeitgenössischen Wiener Musikleben wurde. Es lag nahe, dass van Swieten, dessen Affinität zur Musik auch in seiner Freundschaft mit Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart zum Ausdruck kam, als Leiter der Hofbibliothek Akzente in dieser Richtung setzte. Weitere wesentliche Akzentuierungen des Themenbereichs Musik erfolgten in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Moritz Graf von Dietrichstein, ab 1819 "Hofmusikgraf", hatte die Aufgabe, Hofkapelle, Hofkirchenmusik und Hofmusik zu betreuen, den Sängerknaben- und Künstlereinsatz zu leiten und das Hofmusikarchiv zu überwachen. Als Dietrichstein 1826 von Kaiser Franz I. seiner bisherigen Ämter enthoben und zum Präfekten der Hofbibliothek ernannt wurde, leitete er unverzüglich die Überstellung der archivalischen Bestände des Hofmusikarchivs in die Bibliothek ein. Umfang und Wert dieser Sammlung waren sehr bedeutend, da die komponierenden und musikliebenden Habsburgerkaiser Ferdinand III., Leopold I., Joseph I. und Karl VI. von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts für eine intensive Musikpflege gesorgt hatten. Zu den hervorragendsten Bestandsgruppen zählten die in weißes Pergament gebundenen, handschriftlichen Partituren der Schlafkammerbibliothek Leopolds I. ("bibliotheca cubicularis“) sowie die einheitlich in braunes Leder gebundenen Partituren der Regierungszeit Karls VI.; sie vermitteln ein breites Spektrum der am Wiener Hof gepflegten Musik, in der vor allem die italienische Oper und das Oratorium Spitzenplätze einnehmen.

Das beginnende 19.Jahrhundert stand im Zeichen des Historismus, der sowohl der Musik vergangener Epochen als auch den Originalhandschriften der Komponisten als Zeugnissen überzeitlicher künstlerischer Geltung eine neue Bedeutung zumaß. Als ein Pionier des musikalischen Historismus muß Raphael Georg Kiesewetter genannt werden, der seit 1816 historische Hauskonzerte veranstaltete und seine Musiksammlung (mit Schwerpunkt auf der niederländischen Polyphonie des 16.Jahrhunderts) systematisch aufbaute und der Hofbibliothek überließ. Bei den Musikautographen konnte Dietrichstein 1828/29 beachtliche Erwerbungserfolge erzielen: Haydns "Gott erhalte“ in mehreren Fassungen, Skizzen von Haydn, das "Abendlied" und die "Frühlingssonate" op. 24 von Ludwig van Beethoven. Die Originalhandschrift von Haydns "Theresienmesse" war als Geschenk des Hofbeamten Michael Bartenschlag seit 1826 im Hause; Bartenschlag überlieferte als Erbe Rölligs dessen musikalischen Nachlaß und vermachte später seinen Notenbestand der Hofbibliothek. Auch in personeller Hinsicht bewies Dietrichstein eine glückliche Hand: sein persönlicher Freund Ignaz von Mosel, Komponist und Musikschriftsteller, übernahm 1829 die Stelle des Ersten Kustos, sodass nun die führenden Positionen der Hofbibliothek mit Musikern besetzt waren.

Die erfolgreiche Aufbauphase der Musiksammlung in der Ära Dietrichstein/Mosel fand um 1850 ein vorläufiges Ende. In den folgenden drei Jahrzehnten setzten die Präfekten der Hofbibliothek den Akzent ausdrücklich auf die Erwerbung von Druckschriften und brachten für musikalische Denkmalpflege nur geringes Interesse auf; dies ist umso bedauerlicher, als somit die Chance verspielt wurde, einen repräsentativen Teil des Gesamtwerks der Hauptvertreter der Wiener Klassik (Haydn, Mozart, Beethoven, auch Schubert) für die Hofbibliothek zu sichern. Allerdings muß betont werden, dass die Stärke der Musiksammlung für diesen Zeitraum vor allem in einer umfassenden Quellensammlung für die Musikpraxis des späten 18. und des gesamten 19.Jahrhunderts liegt. Tausende Handschriften, sowohl Autographen als auch Abschriften, dokumentieren das Werk der sogenannten "Kleinmeister“, deren Schaffen heute vielfach vergessen ist, die jedoch insgesamt den kompositorischen "Humus“ bildeten, aus dem sich in Sternstunden der Musikgeschichte das überragende Oeuvre der Großen entwickelte.


Palais Mollard, Sitz der Musiksammlung seit 2005


      Die Erwerbung des (fast geschlossenen) Gesamtwerks Anton Bruckners aufgrund des Testaments des Komponisten (1897) stellte für die Musiksammlung einen Glücksfall besonderer Art dar. Nicht nur sämtliche Hauptwerke Bruckners (die fehlende "Linzer Fassung“ der 1.Symphonie konnte in jüngster Zeit ebenfalls angekauft werden), auch vielfältiges biographisches Material (Kalendernotizen, Briefe, Dokumente) bilden in ihrer Gesamtheit ein einzigartiges "Bruckner-Archiv“, dem sich die Leiter der Musiksammlung in der Folgezeit in besonderer Weise verpflichtet fühlten.

      Eine einschneidende Zäsur in der Geschichte der Musiksammlung stellte der 12. März 1945 dar: Das Albertina-Gebäude wurde im vorderen Bereich, in dem sich auch die Musiksammlung befand, durch Bomben schwer beschädigt. Dank der Auslagerung der Bestände und Kataloge in Kellermagazinen beschränkten sich die Zerstörungen nur auf die Räume; dennoch dauerte es bis zum 18. September 1954, bis die Musiksammlung wieder eröffnet werden konnte. Einen Glücksfall  ähnlich dem Bruckner-Bestand stellte 1974 die Erwerbung des Nachlasses Alban Bergs dar, den Helene Berg, die Witwe des Komponisten, 1974 testamentarisch der Musiksammlung vermachte. An die 3000 Inventarnummern umfassen komplette Originalhandschriften, Skizzen, Notizzettel und Mengen von Briefen; damit ist hier das Lebenswerk zumindest eines der Hauptvertreter der "Zweiten Wiener Schule“ präsent. Die zweite Großerwerbung ist abermals mit dem Namen Anthony van Hoboken verbunden. Hobokens Sammlung von rund 8000 Erst- und Frühdrucken von Werken der großen Meister von Bach bis Brahms, die in ihrer Geschlossenheit den weltweit größten, auf privater Basis zusammengetragenen Bestand dieser Art darstellte, konnte 1974 von der Republik Österreich angekauft werden.

      Einen umfassenden räumlichen und organisatorischen Neubeginn erlebte die Musiksammlung 2005, als sie in ihre neue Heimstätte im Palais Mollard (1010 Wien, Herrengasse 9) übersiedelte und gleichzeitig den nach jahrelanger Vorbereitung erstellten Onlinekatalog ihrer Gesamtbestände der Öffentlichkeit zur Verfügung stellte. 

      Literatur:
      Grasberger, Franz: Die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. – Wien 1978
      Brosche, Günter: „Meine Sprache versteht die ganze Welt“ (J. Haydn). Die Musiksammlung. In: Ein Weltgebäude der Gedanken. Die Österreichische Nationalbibliothek. Graz 1987. S. 155-202